Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott

„Wenn Gott gewollt hätte, dass der Mensch fliegen kann, dann hätte er ihm Flügel gegeben.“ So besagt es eine hinlänglich bekannte These. Und seit gestern gibt es hierzu folgende Ergänzung: Wenn Gott gewollt hätte, dass in der Wurmlinger Kapelle auf einem Hügel nahe Tübingen Klavier gespielt würde, dann hätte er der Kapelle einen Flügel gegeben. Oder Flüge, mittels derer im Bedarfsfall kurzerhand ein Flügel auf den malerischen Gipfel verbracht werden könnte (vgl. Udo Jürgens auf dem Jungfraujoch anno 1983). Da Letzteres allerdings im Widerspruch stünde zur eingangs aufgestellten These, wonach Flüge per se nicht gottgefällig und daher abzulehnen sind, scheidet diese Variante aus. Ferner wäre auch eine einfache Steckdose noch eine Möglichkeit – um daran ein elektrisches Klavier anzuschließen, welches sich ungleich einfacher als ein Flügel auf den Hügel verbringen ließe. In der malerischen Wurmlinger Kapelle gibt es allerdings noch nicht mal eine Steckdose. Keine. Null. Zero Electricity. Was schon bestenfalls ungewöhnlich ist, wenn man’s vorher weiß – und schlimmstenfalls fatal, wenn man’s erst vor Ort erfährt. Dann ist sozusagen echt der Wurm drin …

Nun ist die Wurmlinger Kapelle in quasi jedweder Hinsicht auf sehr charmante Weise „Old School“. Das stille Örtchen beispielsweise befindet sich an einem geheimen Ort (ich musste mit einer Art Schweigegelübde versichern, dass ich die genaue Stelle nicht preisgebe), und dessen „Spülung“ besteht aus einer Klappe – also quasi wie bei einer Flugzeug- oder Zugtoilette, aber eben ohne das „Wwwwwusch“ beim Verklappen. Und, zugegeben, in besagten Verkehrsmitteln muss man die Klappe auch nicht von Hand betätigen. Während man gleichzeitig mit der anderen Hand Wasser aus einer Gießkanne in die Kloschüssel kippt. OK, Hand aufs Herz, im Grunde hat das Wurmlinger Örtchen nicht wirklich irgendwas gemein mit einer Flugzeug- oder Zugtoilette, außer vielleicht die Grundfläche, deren Diagonale auch in etwa der eines durchschnittlichen TV-Geräts in einem durchschnittlichen deutschen Wohnzimmer entsprechen dürfte. Naja, dort gibt’s wenigstens Strom. Woher das Spülwasser in der Gießkanne stammte, war mir bis zum Schluss nicht klar – aber man muss ja auch nicht immer alles ganz genau wissen. Der Wasserhahn im winzigen Waschbecken gab jedenfalls keinen Tropfen von sich. Vielleicht füllt sich die Gießkanne immer wieder über Nacht von selbst – da gibt es doch eine ähnlich lautende Geschichte in der Bibel. Wobei, ich denke, selbst der liebe Gott in seiner Omnipräsenz und Allmacht hat das Klospülgießkannenwassernachfüllen in der Wurmlinger Kapelle nicht allzu weit oben auf seiner To-Do-List.

Es geht also recht rustikal zu auf dem malerischen Hügel hoch über dem malerischen Tübingen – und die Abgeschiedenheit und die Aussicht entschädigen ja für mancherlei Entbehrung. Nur war man halt nicht zum Spaß und zur eigenen Erbauung, sondern zum Klavierspielen engagiert worden – und das stellte sich vor Ort aus oben aufgeführten Gründen eben als unmöglich heraus. Leider ließ sich auf die Schnelle, eine halbe Stunde vor Showtime, auch kein Generator mehr organisieren, der den Strom für die elektrifizierte Darbietung hätte liefern können. Nur ein Wunder hätte noch geholfen, aber in diesem Fall dachte der liebe Gott vermutlich „Leute, bei aller väterlichen Liebe, ich hab grad echt andere Punkte auf der Agenda, und erst letzte Nacht hab ich Euch die Gießkanne wieder aufgefüllt, also kümmert Euch doch halt auch mal selber um was.“

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Nie war diese Weisheit aktueller als gestern auf dem malerischen Hügel über dem malerischen Tübingen. [Exkurs: Bei der Recherche nach dem Urheber dieses Sinnspruchs stieß ich bei wikipedia auf das russische Pendant, welches da lautet „Gott ist Gott, sei du selbst aber auch nicht schlecht.“ Ach ja, der Russe und seine allfällige lakonische Ader. Das kann man, glaube ich, einfach mal unkommentiert so stehen lassen.]

Zurück nach Wurmlingen. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Und wenn dieser der Wurmlinger Kapelle schon keinen Flügel verliehen hat, dann doch wenigstens dem Improvisationstalent des Musikanten. Und so kam es, dass meine schweißverklebten, nach zweifacher Toilettenbenutzung ungewaschenen Hände schließlich in die Tasten der Orgel griffen, um dort behelfsmäßig die romantischen Weisen von Bette Midler bis Beatles zum Erklingen zu bringen. Wie’s klang? Es gibt diese Momente im Leben, da denkst du bloß noch „Egal, ich lass das jetzt so.“

Am End waren alle glücklich. Brautpaar, Gäste, Musiker, Pfarrer (der, wie sich schließlich herausstellte, wohl verantwortlich war für das Inumlaufbringen des Gerüchts, es gäbe vor Ort eine Steckdose), der Taxifahrer, der im Fünf-Minuten-Takt sämtliche Gäste vom malerischen Hügel hinab ins kaum weniger malerische Tal chauffierte, die Messnerin, die das Geheimnis des stillen Örtchens erfolgreich gehütet hatte, und bestimmt auch der liebe Gott, vor dessen Angesicht zwei Liebende den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Und hatte er der Wurmlinger Kapelle schon keinen Flügel gegeben, so hatte er doch immerhin dem Pianisten/Organisten Beine gemacht … mit denen dieser schließlich in zwei enorme Pedale trat, um dem tief schnaufenden Instrument nach alter Väter Sitte Töne zu entringen. Denn Strom für eine elektrisch betriebene Orgel gibt es ja nicht, wie wir jetzt alle wissen, in der malerischen Wurmlinger Kapelle auf dem malerischen Hügel hoch über dem malerischen Tübingen.

(Bild: birgitH  / pixelio.de)

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